Die Alte Levensauer Hochbrücke

Rot leuchten ihre Bögen zwischen den Baumspitzen, dort hinten, fast am Horizont. Am besten konnte ich sie sehen im Sommer, wenn am Abend bei klarer Luft Farben und Formen näherkommen. Früher, als ich noch unterm Dach wohnte. Heiß war es dann dort. Mit einem Ruck öffnete ich dann das Velux-Fenster und ließ mir von der frischen Luft was erzählen. In der Siedlung muss jemand Rasen gemäht haben. Die Bauern fahren Stroh. Kaum Wind heute. Wo es eben rot leuchtete, blitzt nun Sonne in Fensterscheiben. Nach einigen Sekunden dann das typische Rauschen: Ein Zug fährt über die Levensauer Hochbrücke.

Sie steht dort seit 1894. Von allen Nord-Ostsee-Kanalbrücken aus der Kaiserzeit ist sie die Älteste und Größte. Seinerzeit war sie die größte Bogenbrücke überhaupt. Einst hatte sie auch einen Zwilling in Grünental. Der wurde schon 1986 durch einen Neubau ersetzt, der Kieler Zwilling hat bis heute knapp 35 Jahre länger gehalten. Doch nun soll die Levensauer Hochbrücke ersetzt werden. Für Schiffe ist sie die engste Stelle im Nord-Ostsee-Kanal. Es lohnt sich nicht mehr, die Brücke für weitere Jahrzehnte zu modernisieren.

Im letzten Jahr begannen die Vorbereitungen, seit Mai ist die Brücke für Autos gesperrt. An diesem Pfingstwochenende parkt hier ein Kran. Es wird also Zeit, sich umzusehen: Noch ist die Brücke ganz, die mir seit Kindheitstagen so vertraut ist – und auf die sich heute meine Kinder freuen, wenn wir auf dem Weg nach Hause einen kleinen Umweg nehmen.

Ich parke mein Auto am Fuß der nördlichen Brückenauffahrt. Knapp 20 Minuten wird der Aufstieg dauern, überschlage ich. Eine Linkskurve, eine Rechtskurve. Für norddeutsche Verhältnisse sind das Serpentinen. Familien auf Mountainbikes, johlende Kinder rasen mir entgegen. Drahtige Mittfünfziger überholen mich auf dem Rennrad. Als ich den Brückenkopf erreiche, merke ich meine Füße.

Historisches Schwarz-Weiß-Bild: Ein Pferdefuhrwerk vor der Durchfahrt unter dem Brückenportal. Deutlich zu erkennen die beiden Ecktürme auf jedem Brückenkopf.
Levensauer Hochbrücke nach ihrer Erbauung (1895). Fotografie von Arthur Renard (1858–1934).

Anfangs saß auf jedem Brückenkopf ein wuchtiges Portal mit zwei Ecktürmen. Diese hatten sogar Zinnen, das galt damals als schick. Portale und Türme wurden 1954 abgerissen. Man fand es wohl so schöner. Lastkraftwagen und Fuhrwerke hatten mehr Platz. Nur die Sockel blieben stehen und dienen bis heute als Aussichtsplattform.

Diese Plattformen habe ich eigentlich nie so recht wahrgenommen, schließlich kenne ich die Brücke nur vom Weitweg-Wohnen, Darüber-Fahren und vom Untendurch-Gehen. Wenn man am Nord-Ostsee-Kanal spazierengeht und direkt neben den riesigen, norddeutsch rot gemauerten Widerlagern stehenbleibt, wirken die Brückenbogen unerreichbar weit weg. Wie ein Steinwurf fliegen sie über den Kanal und tragen doch das ganze Bauwerk: „genietete, zweigelenkige Fachwerkbögen aus Schweißeisen mit senkrechten Pfosten und sich kreuzenden Diagonalen zwischen den Gurten“, wie Wikipedia weiß.

Die Fahrbahnebene schneidet die Bögen in eine obere und untere Hälfte. Früher mussten sich Eisenbahn und Fuhrwerke auf der Fahrbahn abwechseln. Heute verläuft das Bahngleis auf der Ostseite und die Straße in der Mitte. Auf der Westseite beobachten Fahrradfahrer und Fußgänger Sonnen­untergänge. Noch bis in die 60er Jahre gab es auf dem Südufer, fast ganz oben auf der Brücke, eine kleine Bahnstation. Die Fundamente lassen sich noch erkennen.

Ich gehe auf der leeren Straße umher. Hinter mir rauscht ein Zug vorbei. Da ist ein Geländer, das die Straße vom Bahngleis trennt. Das Gleisbett sieht nagelneu aus. Auch das sieht man gewöhnlich nicht, wenn man im Auto oder Zugabteil sitzt. Erstaunlich, dass man in der Lage ist, alle paar Jahrzehnte ein über hundertjähriges Bauwerk derartig zu modernisieren.

Vor über zehn Jahren las ich, dass es in Köln Tradition geworden sei, eine neue Ehe durch ein Liebesschloss an schönen Brückengeländern zu besiegeln. Auch an der Kieler Förde sieht man jetzt an den weißgestrichenen Seebrücken immer öfter diese Vorhängeschlösser. Dass auch hier auf der Levensauer solche Schlösser hängen, dafür sogar eigens ein Drahtrost über der Brüstung errichtet worden sein muss – das wusste ich nicht. Wieviele Sicherheitsgutachten es hier wohl gebraucht hat? Aber schön, dass eine Behörde auch Sinn für sowas hat.

Die Schweißeisen-Teile der Fachwerkbögen sind genietet. Um einen Niet zu setzen, brauchte es zwei Mann: Mit der Zange hielt der erste den rotglühenden Niet in der Bohrung fest, der zweite formte mit einem Hammer von der anderen Seite das herausstehende Ende zum runden Schließkopf. Das glühende Metall kühlte ab und zog dadurch die Eisenplatten fest zusammen.

Der Himmel ist bedeckt. Ich mag das Licht hier oben, alles etwas diffus. Trotzdem werfen die Niete weiche Schatten. Es war schon richtig, am Spätnachmittag herzukommen. Ich schätze, so 6 oder 7 Blenden wirds hier haben. Perfekt für eine Entwicklung nach Waschzettel. Das passt mir gut, ich habe den Delta 100 noch nicht eingetestet. Die Sonne will gerade durchkommen. Bei Matrixmessung wird es jetzt unten absaufen, aber das finde ich OK so.

Fünfhunderttausend Niete wurden im Tragwerk von Hand gesetzt. Im Sommer 1894 wurden jeden Tag 22.000 Ziegelsteine vermauert. Für den gesamten Bau bilanziert der Historiker Jürgen Jensen 2780 Tonnen Schweißeisen, rund 71 Tonnen Gusseisen, rund 40 Tonnen Gussstahl für die Lager sowie ferner rund 333 Kubikmeter Eichenholz.

Der Film ist fast halbvoll. Ich fange an zu zweifeln, ob die 60er Festbrennweite heute eine gute Entscheidung war. Ein 35er hätte ich jetzt gerne hier. Nur langsam finde ich Zugang zu den kleinen Details, die ich auf der Brücke vermutete. Wieder und wieder nähere ich mich den Nieten und Muttern, immer ist das alles Essig. Rostflecken? Rostflecken. Ausgerechnet. Muss man das fotografieren? Als ob nicht Flickr voll davon wäre. Mutlos schleiche ich zum Bauzaun. Mir fehlt die Traute, mal so richtig in die Baustelle einzusteigen. Was war nochmal mein Ziel hier oben?

Eines Tages wird diese Brücke nicht mehr da sein. Nur das südliche Widerlager wird erhalten bleiben, damit die Fledermäuse hier weiter zu Tausenden überwintern können. An Stelle der genieteten Bögen werden dann hier zwei neue Bögen stehen. Etwas schlanker und deutlich kühner, aber wieder in rot – vielleicht ja eine Verbeugung vor den alten Baumeistern.

Sie wird mir fehlen. Sie war ja schließlich immer schon da. Heute habe ich sie ein bisschen besser kennengelernt. Ich freu mich trotzdem auf den Neubau. Naja, jedenfalls bin ich nicht nur traurig. Ich kann ja dann meinen Jungs zeigen, wie es hier früher aussah. Wenn sie sich nicht selber dran erinnern. Am besten, ich nehm sie nochmal mit. 20 Minuten bergauf, das ist zu schaffen.

Über diese Bilder

Die Bilder entstanden auf Ilford Delta 100, außenrum meine neue Nikon F801s mit einem Mikro-Nikkor AF 60/2.8 D. An sich ist das total unwichtig, aber ich bin immer noch ganz hin und weg: Autofokus! Autofokus! Wie lässig ist das bitte?

Der Ilford-Delta-Film wurde „nach Waschzettel“ für 05:30 Minuten in Kodak HC-110 (Verdünnung B) entwickelt. Die Negative wurden dann mit einer DSLR digitalisiert.

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